8. Mai Stade


Menschen gedenken Menschen

Blumen für die Opfer des Nationalsozialismus



Für Liebe drohte der Tod


Von Anping Richter


LANDKREIS. Menschen aus dem ganzen Landkreis Stade rufen zum 73. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus am 8. Mai dazu auf, an Gräbern von Opfern des Nationalsozialismus Blumen niederzulegen. In diesem Jahr wollen sie an zwei Zwangsarbeiterinnen erinnern.


Maria R. war erst 18 Jahre alt, als sie 1942 als Zwangsarbeiterin nach Engelschoff kam. Zwei Jahre später, am 8. Mai 1944, brachte die in der Ukraine geborene junge Frau in Stade einen Sohn zur Welt. Bald darauf wurde Maria R. von der Gestapo Stade verhaftet und ins Polizeigefängnis gebracht, wo sie vom 16. Oktober bis zum 1. Dezember blieb. Dann wurde sie ins KZ Ravensbrück deportiert. Ihr damals fünf Monate alter Sohn Peter kam nach ihrer Inhaftierung in das sogenannte fremdvölkische Kinderheim in Drochtersen-Nindorf. Wie die meisten Säuglinge dort überlebte er nicht lange. Er starb fünf Monate später, am 14. März 1945. Heute trägt ein Gedenkstein vor der Friedhofskapelle auf dem Drochterser Friedhof die Aufschrift „Zum Gedenken an die polnischen Kinder“.


Der Vater des kleinen Peter war vermutlich ein Deutscher. Das lässt sich daraus schließen, dass Maria R. ins Konzentrationslager kam – die übliche Strafpraxis bei „GV-Verbrechen“, wie sie im damaligen Behördendeutsch genannt wurden. Gemeint waren verbotene sexuelle Beziehungen zwischen Deutschen und sogenannten „fremdvölkischen“ Arbeiterinnen oder Arbeitern.


Die intime Beziehung der Zwangsarbeiterin Jewdossya Affanassywa zu ihrem deutschen Arbeitgeber, dem Bauern Christoph V., brachte sie beide ins Konzentrationslager. Vermutlich hatte jemand die beiden bei der Gestapo denunziert.


Die aus Russland stammende 31-Jährige wurde zu Beginn des Jahres 1944 verhaftet und in Stade in Polizeihaft gebracht, Christoph V. am Tag danach. Er wurde nach einmonatiger Haftzeit im Polizeigefängnis Stade ohne Urteil ins KZ Neuengamme überwiesen und dort nach sieben Monaten wieder entlassen, dann aber sogleich zum Kriegsdienst eingezogen. Er überlebte die Kriegszeit.


Jewdossya A. war schwanger und wurde nach einmonatiger Haftzeit zunächst entlassen. Auf dem Hof eines neuen Arbeitgebers in Königreich brachte sie am 8. August 1944 ein Kind zur Welt: Lönka Affanassywa. Die junge Mutter wurde drei Monate später erneut verhaftet und ins KZ Ravensbrück überführt, wo sich ihre Spur verliert. Das Baby Lönka wurde in die „fremdvölkische Kinderpflegestätte“ im Gebäude der ehemaligen Wehrt’schen Ziegelei in Jork-Borstel gebracht und starb dort am 1. Januar 1945. Der Name ist einer von zwölf auf einem Gedenkstein auf dem Borsteler Friedhof, mit dem an die Babys erinnert wird, die dort an Hunger und Vernachlässigung starben. Christoph V. stellte nach dem Krieg einen Wiedergutmachungsantrag beim Sonderhilfsausschuss des Landkreises Stade, in dem er sein Verfolgungsschicksal schildert. Sein Antrag wurde abgelehnt. Begründung: Es hätten „keine Verfolgungsmaßnahmen aus politischen, rassischen oder weltanschaulichen Gründen“ vorgelegen.


Der Stader Michael Quelle hat auf die Geschichte der beiden Zwangsarbeiterinnen aufmerksam gemacht. Er bemüht sich seit Jahren, die vergessenen Gräber der verstorbenen Babys von Zwangsarbeiterinnen zu finden, Namen, Geburts- und Sterbedaten zu recherchieren und mehr über die Geschichte dieser Kinder und ihrer Mütter und Vater zu erfahren. Zurzeit versucht er, durch Anfragen bei Gedenkstätten und Archiven mehr über den Verbleib der Zwangsarbeiterinnen Maria R. und Jewdossya Affanassywa herauszufinden. Ihre Geschichten sind in dem Buch „Alltag und Verfolgung – Der Landkreis Stade in der Zeit des Nationalsozialismus“ von Heike Schlichting und Jürgen Bohmbach nachzulesen, das 2003 von Stadt und Landkreis Stade herausgegeben wurde. Die hier verwendete Schreibweise des Namens Jewdossya (im Buch Jewdossywa) entspricht der Karte aus der Zwangsarbeiterkartei, die Dr. Gudrun Fiedler, die Leiterin des Niedersächsischen Landesarchivs am Standort Stade, zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat, ebenso wie das Foto von Maria R. Ihr vollständiger Name wird nicht genannt, weil seit ihrer Geburt noch keine 100 Jahre verstrichen sind.


Ein Aufruf zum Gedenken


Der Aufruf, am 8. Mai zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus Blumen auf Gräbern, Gedenksteinen und Gräberfeldern im Landkreis Stade niederzulegen, ist eine Personeninitiative. Zwei Treffpunkte von vielen möglichen: in Stade um 18 Uhr, Camper Friedhof, Eingang Harburger Straße, und in Buxtehude, 18 Uhr, am Eingang des Friedhofs Ferdinandstraße. Der Aufruf ist unterzeichnet von: Rainer Auf’m Kampe (Buxtehude, Kreistagsabgeordneter), Michael Bickel (Drochtersen), Benjamin Koch-Böhnke (Buxtehude, Ratsherr/Kreistagsabgeordneter), Lutz Bock (Gewerkschaftssekretär DGB), Bettina Dankers (Stade), Holger Dankers (Stade, Ratsherr), Reinhard Elfring (Stade, Ratsherr), Silke Hemke (Stade), Ulrich Hemke (Stade), Hartwig Holthusen (Harsefeld, Kreistagsabgeordneter und Samtgemeinderat), Tristan Jorde (Stade), Harald Kaiser (Stade), Kristin Kehr (Stade), Richard B. Klaus (Stade, Kreistagsabgeordneter), Hermann König, Oliver Kogge (Stade), Bodo Koppe (Hemmoor), Klemens Kowalski (Buxtehude, Ratsherr), Karina Krell (Stade, GEW Kreisverband Stade), Uta Kretzler (Buxtehude), Heiko Malinski (Stade), Lemar Nassery (Stade, GEW Kreisverband Stade), Michael Quelle (Stade), Harald Winter (Buxtehude), Arne Zillmer (Ratsherr in Himmelpforten).


5. Mai 2018

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